Nibelheim ist gar nichts gegen Sachsen-Anhalt, FAZ, 5.2.2015

 

Ungeliebt von der Politik: André Bücker vollendet mit „Das Rheingold" den Dessauer „Ring" und nimmt seinen Hut
Von Jan Brachmann

 

Digitalisierung ist die Zerstörung des Handwerks durch die Trennung von Hand und Werk. Einige Warner sehen darin ein Verhängnis. Sie glauben, dass wir uns mit dieser Trennung von Körperbewegung, Anschauung und deren Folgen das Gehirn wegklicken und die Empathie zu unserer Umwelt verlieren. Ist also die Digitalisierung der Fluch des Rheingolds in Richard Wagners Opern-Vierteiler „Der Ring des Nibelungen“?

 

Man könnte auf diese Idee kommen, wenn man sich mit André Bücker unterhält, dem Intendanten des Anhaltischen Theaters Dessau. Er hat gerade mit dem „Rheingold" seine erste „Ring"-Inszenierung vollendet, von hinten nach vorn, denn mit der „Götterdämmerung" fing er 2012 an. Es ist eine Art mediengeschichtlicher „Ring". Bücker erzählt: „Wir fangen bei der Höhlenmalerei an und enden bei der Festplatte. Auch das körperliche Spiel ändert sich, obwohl es in allen Teilen eine starke Stilisierung gibt. Aber von der freien, noch spontan wirkenden Körperlichkeit im „Rheingold“ geht es dann zu einer immer stärkeren Formalisierung in die „Götterdämmerung“ am Ende. Tatsächlich füllt am Anfang des „Rheingolds" eine tintenblaue Farbenkleckserei die schneeweiße Bühne von Jan Steigert. Doch auch sie spritzt schon digital vermittelt herum: durch Projektionen von Frank Vetter und Michael Ott. Wenn die Rheintöchter das Rheingold enthüllen, kreisen bunte Bilder durch die Luft: Aus der Höhle von Lascaux geht es bis zu Delacroix. Wenn die Sänger auch manchmal unnötigerweise in scharfes Sprechen verfallen, singen sie doch leicht und deutlich. Stefan Adam als Alberich macht das fast buffonesk, und Albrecht Kludszuweit als Loge singt Wagner mit der scharfzüngigen Coolness eines Brecht-Songs. Die weißen Belle-Epoque-Kostüme von Suse Tobisch und die flirtende Grazie der Bewegungen geben dem Ganzen den Charakter eines Pariser Konversationsstücks um 1880. Das ist hübsch, vor allem in Verbindung mit den feingezeichneten Linien des Orchesters.

 

Mehr als fünfzig Jahre hatte Dessau keinen kompletten „Ring" mehr. Im kommenden Mai werden, gleichzeitig mit einem internationalen Wagner-Kongress, noch einmal alle vier Teile zusammenhängend aufgeführt. „Der Ring des Nibelungen in der Bauhausstadt Dessau" heißt dieses Großprojekt, es steht unter der Schirmherrschaft des Ministerpräsidenten von Sachsen-Anhalt, Reiner Haseloff (CDU). Das hat eine fast humoristische Note. Allem Anschein nach ist es nämlich Haseloff zu verdanken, dass „Das Rheingold" Bückers letzte Operninszenierung in Dessau sein wird. Er verlässt das Haus ebenso wie Generalmusikdirektor Antony Hermus, der den „Ring", wie man es von diesem hochbegabten Musiker erwarten darf, wach, behutsam und entschieden dirigiert.

 

Die große Koalition aus CDU und SPD, die das Land Sachsen-Anhalt regiert, kündigte 2013 an, die Förderung für die Theater werde von 36 Millionen auf dreißig Millionen Euro abgesenkt. Knapp drei Millionen davon sollten dem Anhaltischen Theater Dessau entzogen werden. Der Kultusminister Stephan Dorgerloh (SPD) empfahl den Dessauern, künftig auf Schauspiel und Ballett zu verzichten und nur noch Opern anzuschauen, vielleicht noch Puppentheater. Jedoch viermal in Folge sprach sich der Stadtrat für den Erhalt des Vierspartenbetriebs aus. Im April 2014 wurde dann beschlossen, die fehlenden Landeszuschüsse aus kommunalen Mitteln auszugleichen. Es handelt sich um Mehraufwendungen von zehn Millionen Euro in den nächsten fünf Jahren. Bücker und seinen Leitungsmitarbeitern ist es in Einzelgesprächen gelungen, mit 97 Prozent der Beschäftigten eine Zustimmung zur Teilzeitbeschäftigung von neunzig Prozent zu erwirken. Fünfzig Stellen müssen bis 2018 kündigungsfrei abgebaut werden.

 

Es gebe große Solidarität im Haus, sagt Bücker, diese Pläne umzusetzen. Doch im Frühsommer 2014 fanden Kommunalwahlen in Dessau statt. Der bislang regierende Oberbürgermeister Klemens Koschig (parteilos) unterlag seinem Herausforderer Peter Kuras von der FDP. Dessen erste Amtshandlung war es, Bückers Intendantenstelle zum 1. August 2015 neu auszuschreiben. Das war formal möglich, weil Bückers Vertrag schon 2013 nicht verlängert worden war, mit Blick auf die ungesicherte Zukunft des Theaters, obwohl das Geschäftsjahr 2013 einen Überschuss von 205 000 Euro und einen moderaten Anstieg der Besucherzahlen erbracht hatte.
Bücker berichtet, der neue Oberbürgermeister habe ihm damals im persönlichen Gespräch erklärt, er sei dem Land „nicht vermittelbar". Auch schon auf Koschig hatte die Landesregierung wegen dieser Personalie offenbar mehrfach Druck ausgeübt, doch der aus der Bürgerbewegung der DDR hervorgegangene Politiker gab diesem Ansinnen nicht nach, anders als nun Kuras. Dabei hatte sich ausgerechnet dessen Parteifreundin, die FDP-Politikerin Cornelia Pieper, an die Spitze der Volksinitiative „Kulturland Sachsen-Anhalt" gestellt, die Unterschriften sammelte, um gegen die geplanten Kürzungen im Kulturhaushalt durch die Magdeburger Landesregierung zu protestieren.

 

Der Politikstil von Reiner Haseloff und Stephan Dorgerloh erregt inzwischen bundesweit Besorgnis. Birgitta Wolff, seit Januar 2015 neue Präsidentin der Goethe-Universität Frankfurt am Main, hat die Umstände ihrer Entlassung als Wirtschafts- und Wissenschaftsministerin in Sachsen-Anhalt 2013 inzwischen öffentlich gemacht: Haseloff sei dem zwanglosen Zwang des besseren Arguments nicht zugänglich gewesen und verfüge über keinerlei Streitkultur. Ähnliches berichtet auch Bücker: Nachdem das Theater ein Rederecht im Magdeburger Landtag erwirkt hatte, seien die dort vorgetragenen Gedanken von den Abgeordneten einfach nur verlacht worden: „Argumente, 45 000 Unterschriften, Schülerdemonstrationen — das perlt an denen ab wie an Beton! Das bleibt alles folgenlos!"
Erfahrungen wie diese führen dazu, dass die Bürger den Staat immer weniger als öffentliche Angelegenheit empfinden. Der Parteienparlamentarismus stellt sich als geschlossener Club dar, der an der Willensbildung nicht mehr mitwirkt, sondern durchregiert. Ein Empathieverlust der Politik für die Gesellschaft, die Trennung von Souverän und Exekutive bis zum Gefühl der völligen wechselseitigen Fremdheit — das darf sich nicht zum Verhängnis für die Demokratie auswachsen.

 

Bückers letzte Dessauer Inszenierung wird Johann Wolfgang von Goethes Schauspiel „Götz von Berlichingen" sein. Keine spontane Reaktion: Das war schon lange so geplant.